6 Jan 2013











18 · DIE VERGESSENE TONTAFEL

Nach beinahe 5000 Jahren entschied sich Gilgamesh endlich, einmal aus der Erde hervorzutreten, um seinen Durst im Wasser des Euphrats zu stillen. Die Tür zu seinem Grab wollte sich nicht so recht bewegen, und so drückte er mit aller Leibeskraft unermüdlich gegen die gar schwere Verblendung aus härtestem Diorit, edlem Granit, armdicker Goldverkleidung und geschliffenem Beschlag in Silberbronze auf steinhartem Zedernholz.

achte und ganz langsam schob er also den wuchtigen Riegel vom eisernen Haken. Die Schätze in der Gruft hatte er vorsichtshalber bereits an die Decke gehängt. Durch all das viele frische Wasser der abzweigenden Kanäle im Tal von Uruk sollten sie nicht unnötig nass werden. Die Kostbarkeiten würden noch einmal selbst die Sonne in ihrer Mittagsglut blenden. Mit dem ersten kühnen Spalt in der Tür drang trockener Steppenwind in sein Mausoleum. Der Sand türmte sich 5 Meter vor dem Ausgang in die Höhe und 5000 Jahre vor seiner Erschrockenheit. Die Luft hatte ihre natürliche Reinheit verloren. Die Augen trübte ein leichter Schleier aus transparent-grünem Ölfilm, als er zögerlich den Kopf hinausbeugt. Vor ihm lag jetzt ein anderes Land. Ein fremdes Land stand vor ihm! War das nicht mehr sein Garten Eden der Kanäle, grünen Wiesen oder weiten Dattelhaine und Gemüsefelder? Kein Kind spielte in den Gassen der versunkenen Stadt. Keine Handwerker, schimpfende Frauenstimmen oder dicke Hammelherden waren in den Straßen zu sehen oder gar zu hören. Uruk war zur versunkenen Geisterstadt geworden, die neben zeitloser geplanter Ausgrabungswissenschaft und den geraden archäologischen alten und neuen Linien im Erdboden von einem Netz aus tiefen Löchern überzogen worden war. Je nach der Zeit und der politischen Bequemlichkeit nennt man es Wissenschaft oder aber auch Raubgrabung. Ganz kluge Köpfe reden vom großen Weltkulturerbe, um dann die Menschen vor Ort besser zu beerben oder aber auch enterben zu können.

Immer wieder kamen die Fremden von den Bergen herab, hissten ihre Segel im Shatt Al-Arab oder durchpflügten auf dröhnenden Ungetümen und anderen abartigen Kettenfahrzeugen den Sand vor sich her. Der sumerische Gott Anu musste schon weit hinter den Wolken und dem Sternenfirmament wohnen, um noch unter sich und dem Himmel in bedrohlicher Nähe riesige stählerne Flugungetüme zu dulden. Der Mensch hat in verkannter Eitelkeit seine eigene Ignoranz zum Gott erhoben und sucht eben doch nur in der Tiefe der Erde nach dem kürzesten Weg und Steg zum ewigen Seelenverkäufer und Menschenverbrenner. Wenn auf der obersten Kruste nichts mehr zu holen ist, dann sind es aber wenigstens die wertvolleren Schätze unter dem Boden dieses Landes, die schon wieder den Blick trüben und die wässrigen Augen der anderen und neuen dubiosen Fremden ganz irrewerden lassen. Die verborgenen und für den kurzen Moment ersehnten Schätze unter der Wüste und dem verwüsteten Land werden wieder einmal von wüsten Lumpen, argen Mitläufern und Völkern anderer Länder, Erdteile und neuem teuflischen Gedankenspiel erkundet, geplündert, geraubt und auf wüsten Gelagen verschleudert.

Also macht sich Gilgamesh auf den Weg, um noch einmal nach Dilmun, dem Garten Eden des Reichtums und des ewigen Lebens, zu gelangen. „Halt, mein Freund!” „Das ist nicht der richtige gottesfürchtige Weg, den Du einschlagen willst.” „Du musst Dich nach Norden hin umwenden, dort wo das wahre Leben und nicht jenes der Golfstaaten und ihrer Verschwender liegt.” Gilgamesh dreht sich um und sieht einen schon sehr alten Mann vor sich. Tiefe Furchen haben sich in das kluge Gesicht eingegraben und doch bildet jedes Tal eine reine Harmonie mit den Erhebungen an Kinn und Wangen des gütigen weisen Alten. „Geh‘, mein Freund, und mache Dich auf den Weg nach Baghdad!” „Doch vorher bücke Dich, und nimm diesen Stein da vom Boden!” „Trage ihn bei Dir, damit er Dich stets an die Härte des Lebens erinnere!”
Als Gilgamesh in Baghdad ankommt, denkt er auch schon gleich an seine eigenen Schriften und die Tontafeln seines Reiches von Uruk, das weit bis an den Sonnenuntergang reicht. Ganze Straßenzüge sind in der neuen und so geschändeten Hauptstadt mit Trennwänden aus ödem Beton gepflastert. Die Menschen in der Stadt trauen dem einen und auch dem anderen Zeitgenossen nicht. Der Bruder wird zum Andersgläubigen und damit zum Feind. Das Böse lässt die Blicke misstrauisch zu Boden senken. Das Paradies ist noch einmal geraubt worden. Die Fremden kennen den Tag nicht und wissen noch weniger, was 5000 Jahre bedeuten. In alle Winde haben sie sein Land und seine Leute verstreut. Berlin, Paris, London, Genf oder gar New York und Philadelphia verschließen hinter dicken Stahltüren die ureigene Geschichte Mesopotamiens. Sie alle haben ihre kulturhistorisch armseligen Museen mit den Schätzen, dem Wissen und der Kunst Asiens, Afrikas und Alt-Amerikas bereichert. Wer es bis nach Machu Picchu in Peru gebracht hat, wird sicher eine andere Ehrfurcht finden und wohl nie mehr in seinem Leben zu einem schnöden und modern verunstalteten Wolkenkratzer in Demut hinaufschauen. Choquequirao, sein noch versunkener Bruder auf dem Nachbarplateau aus ferner Inka-Zeit, ist noch nicht einmal ausgegraben. Wer hat da noch Anspruch auf Macht und das Brot des Bäckers? Das Gilgamesh-Epos ist in Abertausende Einzelteile zerbrochen.
„All die fremden Städte, die Länder und Kulturen halten einen Teil Deines Lebens in ihren Händen.” „Ein jeder hat seine fremde Tontafel ̶ unsere Tontafeln!” Wieder blickt sich Gilgamesh im Menschengetümmel um und stößt dabei auf eine Frau, die nach reifer Grazie und sanften Augen seine Mutter hätte sein können. „Geh‘ aus dieser Stadt, und nimm den kurzen Weg durch die Syrische Wüste!” „Geh‘ und suche die letzte Deiner Tontafeln, die von Deinem ewigen Tod und der unendlichen Wiedergeburt kündet!” „Geh‘ und bring uns erneut die Wahrheit in dieses Land der tausendfachen Verdammnis und Schande!” „Nimm dieses Brot auf Deinem Weg!” „Möge es Dich an den Hunger in unserer Welt erinnern!”
Die Mittagshitze hatte sich eben ein wenig verflüchtigt, als Gilgamesh einen Platz im Schatten aufsucht. Der Kopf hatte bereits unter der Last des Tages nachgegeben und glitt zaghaft auf seine Brust. Müde war er, und der Weg hatte gerade erst begonnen. „Wie ist Dein Name, und das hier muss noch ausgefüllt und unterschrieben werden!” „Also keine Grillen ̶ klar?” Die Uniform des jungen Grenzbeamten war bereits am kurzen Saum vom feinen Flugsand etwas abgeschliffen. „Ich bin Gilgamesh ̶ einziger Herrscher und weiser Mann von Uruk und dem Morgentau der Andacht.” Der hagere Zöllner war schon mehr als sprachlos, und es kostete ihn einige zähflüssige Sekunden, bis er die Worte wieder gefunden hatte. „Gilgamesh ̶ also der aus der Mythologie?” „Wie dem auch sei ̶ Du kannst sein, wer Du willst!” „Der endlose Krieg hat Euch ja alle verrückt gemacht, oder es liegt an der ewigen verfluchten Sonne.” „Komm und nimm Platz!” „Lass uns einen Tee trinken, und erzähle von Deinem Leben.” Der Zöllner und Gilgamesh teilten sich Brot und Tee, und als der Abend kam, da legte der müde Wanderer den Kopf auf den Stein in seinem Beutel. Die Gedanken durchkreisten seine Gehirnfurchen, und so spürte er:
Am Morgen hat noch alles seinen Sinn, doch kommt der Mittag, ist bereits vieles vergessen und erneut dahin!
In Baghdad hatte er vergeblich versucht, die Geschichte einzuholen. Wichtige Abhandlungen und brüchige Tontafeln wurden schon vor Jahren aus seinem Land geschmuggelt, gestohlen oder gar zu Baumaterial zermahlen. Bleiben würden noch Artefakte in fremden Händen ̶ in fremden Ländern oder gar in fremden Köpfen mit geraubtem geistigen Eigentum. Ein langer und mühseliger Weg würde noch vor ihm liegen. Hätte er wirklich die Kraft, sein Herz noch einmal in der Brust schlagen zu hören? Über alle sieben Weltmeere, die höchsten Gipfel der Erde und bis an die eisigen und unendlichen Pole des Planeten trieb ihn die Sehnsucht des geschriebenen Wortes. Die Welt erträgt schon zu viele üble Plagiate und falsche Propheten. So schnürt wieder einmal der einzige und weise Herrscher sein Bündel mit dem Brot, dem Beutel Tee und dem Stein, um das zu finden, was einst die unwissende Menschheit aus dem Dunkel des Lebens und der Geschichte führte. Von Stadt zu Stadt eilt er, lernt die Sprachen anderer Menschen, taucht ein in die vielen Sitten und Gebräuche und teilt am Abend: Brot, Tee, den Stein und sein Nachtlager mit ihnen. Überall findet er seinen alten Weg nach Dilmun auf neuen Pfaden. Überall bleiben aber dennoch auch hohe Mauern, die die Wahrheit gefangen halten.
Flüssiges Teerpech quillt aus dem Boden, um die Zeit verbiegen zu können. Brotgetreide wird in Feuer speiende Ungeheuer geworfen, um den Menschen zwischen Zeit und Raum treiben zu lassen. Brot verkommt zu Benzin. Was ist noch oben, was ist unten? Wo ist der Himmel ̶ wann hört die Hölle auf? Wer nicht stehen bleibt, kann keine Wurzeln schlagen. Vergessen ist der Mensch. Allein das Wort ist geblieben auf der letzten Tontafel. So überquert er das erste der sieben Meere und kommt zu einem Land, das sich selber hasst und ausbeutet. Es ist der Hass und wohl die ewige Verachtung gegen den anderen Nachbarn oder auch Freund. Hier zählt nur der Dollar ̶ das Geld, das bald keiner mehr in Händen hält. Und er hat nur Brot, Tee und den Stein, um die Gerechtigkeit gegen andere Demut einzutauschen. Es quillt das Teerpech ̶ das Benzin aus dem Boden, und wieder wird Uruk geplündert. Kriege fangen sie an und schmeißen die vollen Getreidesäcke in den Ozean.
„Oh Mensch ̶ wie lange noch willst Du erdulden diese leidige Schmach am Abgrund Deines Weges?”
Wer kein Geld hat, geht weiter, und so verlässt er das Land. Nachdem Gilgamesch vergeblich versucht hat, in die Bibliotheken, Tresore und an die geraubten Tafeln zu gelangen, musste er sich wieder einmal auf seine ureigenen Gedanken verlassen. Wer könnte noch die Geschichte ̶ seine Geschichte besser erzählen, als es sein eigener Kopf vermag? Sollte etwas fehlen, so wäre es die Reise ̶ der noch lange Weg bis ans Ende aller Weltenpein, der den feuchten Ton formen sollte. Die Wahrheit und Weisheit würden dem Land, dem alten Paradies und seinem Volk gegeben. Im blau-grünen Ozean der ewigen warmen Sommerbrandungen springt von Insel zu Insel die Abendsonne, um sich nie gefangen nehmen zu lassen. Die Menschen tauschen das Brot, den herben Tee und liegen in der warmen Nacht auf seinem Stein. Fleißig ist der Mensch und geduldig auf der anderen Seite der Erdenkugel. Hier kennt man den Tee und kennt auch seine Geschichte. Zeit wird genutzt aber auch als gutes Geschenk geehrt. Die Völker in Asien, Ozeanien und anderen Orten wissen um die Zeit. Sie wiegt mehr als Geld, Gold und Teerpech.
Gilgamesch wandert durch Berge, Täler, Bäche, Flüsse sowie Wüsten und Städte mit baumlosen Alleen. Tage, Wochen und Jahre vergehen. Da greift er mit der Hand nach der Tonerde, anderer Tonerde, unbekannter Tonerde. Es ist harte Tonerde, weiche Tonerde, helle Tonerde oder auch dunkler Erdenbrei. Es ist egal, wie man in der Not die Psyche bei Laune hält. So treibt er den Ganges hinauf und hinab. Eine Flut folgt der anderen am Ende der überschwemmten Brücken des überfüllten Landes. Soll er sich vielleicht doch entscheiden für die erste warme Malzeit oder mit der Gottesmystik sein Beten ernähren? Die gestrafte Seele baumelt nun mal nicht gerne kopflos über steilem Abgrund. Mit dem Regen des langen Monsuns steigt das Wasser in den engen Straßen. Wer nicht ertrinkt, wird vom Schlamm der Berge überrollt. Der Indus liebt die Menschen hier nicht mehr, so wie sie seinem Bett das Laken genommen haben. Von den hohen und kalten Bergen in Afghanistan quillt der Lapislazuli aus den hinteren Grotten und verklebt am teuflischen Mohn. Wer wird hier noch kahle Wälder roden?
Gilgamesch schreibt der Menschen Geschichte und der Menschen Glück. Am Horizont beginnt die Wüste, am Horizont beginnt der Wind, und der schwere Kopf wird endlich wieder frei durchpustet.
Gilgamesch wird von der Hitze gepackt, und auf dem Stein der warme Tee zubereitet. Er bricht das Brot, und Körner fallen zu Boden. Er denkt an das Brot vor der Zeit an einem anderen Ort, ob in Dunkelheit oder auch Helligkeit. Er denkt an das Brot in den Anden und die zu seinem Gott nahen Berge des Himalaya. Er denkt an das feste und volle dunkle Brot in den Wäldern von Sibirien ̶ wie an das warme aus Samarkand vor der Steppe. Er denkt an das Brot, das er nicht hatte und es doch einst verteilte.
„Halt Ihr Menschen ̶ Ihr lieben Menschen, wohin geht Ihr am Ende des Tages!”, und die Kolonne will noch kein Ende nehmen, die ihm da aus dem zerrissenen Land zwischen Euphrat und Tigris entgegenkommt. „Wir haben kein Land mehr und auch keine Ernte.” „Der Wind hat das Laub fortgetragen!”
Gilgamesch versteht nicht so recht, wo doch die Seele dort drüben zu Grabe liegt. Er spricht zu Tigris und Euphrat und seine Worte tauchen ein in das Wasser aus den Bergen. Die Menschen nennen das Land nicht mehr ihr Land. Sie wollen es verlassen und auch wieder darum kämpfen. Der Tonstaub an den Schuhen stört den schnellen Schritt. Der eine Begleiter geht, der andere kommt, und die Hand greift zum trockenen Boden. Langsam rinnt das Pulver zur Erde. Das ist wieder sein Staub. Das ist wieder seine Erde!
Gilgamesch formt mit der Hand die Erde, und aus dem Ton wird die Tafel. Er wird sie zu Ende schreiben in Uruk und den Menschen vom Leben künden. Das ist sein Staub hier ̶ seine Erde, und es wird sein ewiges Leben und sein ewiger neuer Tod sein.
Gilgamesch legt Brot, Tee und Stein zu Boden. Die schwere Tür seines Hauses lässt sich nur zögerlich öffnen. Er will wieder in das Grab hinunter. Der Wind soll den Sand auf seine Glieder wehen. Die Welt soll entscheiden, so wie sie am Ende immer entscheidet!
„Warum verschließt Du Dich wieder für die nächsten 5000 Jahre und bleibst nicht bei den Menschen?” „Wer bist Du?”, wendet sich Gilgamesch der Frau und dem Kind auf dem Arm zu. „Ich bin eine Frau aus diesem Land ̶ Deine Frau mit dem Kind und mit der Liebe.”
Gilgamesch weiß nicht, ob er doch der Herrscher und Gott von Uruk bleiben soll, oder nur ein Mensch wird.
Brot und Tee gibt er der Frau, und die Hand des Kindes legt den Abdruck auf die frische Tontafel unter dem Stein. 5000 Jahre sollten es sein ̶ 5000 weitere Jahre sollen es wieder sein und alles erneut begraben?
Die Geduld lacht aus den Augen des Kindes in sein Gesicht, und er wird noch einmal bleiben ̶ dort vor seinem Grab!