20 Jan 2013







2 · DER TUNNEL (Teil 1)

Sie hatten sich bereits 35 Meter vorgearbeitet, und noch immer war kein Ende abzusehen. Der Winter war schon ins Land eingezogen, und Weihnachten sollte es nun soweit sein. Bereits ein Jahr war seit der erzwungenen Trennung vergangen. In dieser Zeit hatten sie um Hilfe gebeten ̶ unzählige öffentliche Stellen und Ämter aufgesucht ̶ internationale Arbeit betrieben. Anfangs war man noch höflich zu ihnen, obwohl sich auch so manch ein Rambo-Typ in das anstehende Projekt einklinken wollte. Wo eben süßer billiger Honig ist, da kommen die Bienen in großen Schwärmen angeflogen. Hier jedoch war mehr von aufdringlichen Schmeißfliegen die Rede. Jedenfalls hatte alles nichts genützt. Nach Monaten des flehentlichen Bemühens und der Selbstaufgabe blieb nur die eine richtige Lösung, diese schwierige Sache in die eigene Hand zu nehmen und dann das geplante Tunnelprojekt zu realisieren.

Aus Sicherheitsgründen und der technischen Überlegung heraus gruben sie sich unter der Erde nicht in gerader Strecke voran, sondern mussten im mühseligen Zick-Zack-Verlauf die harte Unterminierung angehen. Hierdurch verging leider zu viel Zeit. Die Nervenfasern lagen mehr als einmal blank, und als dann sogar noch am 17. Tag ein unvorhergesehener aber erschrockener Besucher auftauchte, da war endgültig der Entschluss gefasst:
Wir müssen uns bewaffnen! Frau und Kind warten auf der anderen Seite der Mauer. Es war jetzt kein Spiel mehr.

Die Revanchisten und aus den Katakomben emporgestiegenen Kriegstreiber hatten mit der Zerstörung des Staates gedroht ̶ das so friedliche neue Deutschland sollte nicht wieder zur Ruhe kommen. Der entfesselte Monopolkapitalismus fraß sich erneut in die Gehirne der armen Menschen ein. Vom Faschismus endlich befreit, gipfelte nun alles im Demokratiegeblöke der frisch-gebackenen Zyniker. 1961 trennte nicht nur Familien, sondern der gute alte Lenin musste wieder einmal neu begriffen und neu angewandt werden, auch wenn das zur Stunde keiner wahrhaben wollte:

Zwei Schritte vor ̶ ein Schritt zurück!
Häufig war es aber auch umgekehrt, und das Hemd war so manch einem verdummten Zeitgenossen näher als die Hose. Sicher ̶ auch die standhaftesten Kämpfer für eine gerechte Welt in Frieden und echtem Sozialismus waren der härtesten Prüfung ihres Lebens unterzogen. Wer wollte jetzt noch über Politik reden? Das konnte und musste später nachgeholt werden.
Tagelang hatten sie nicht mehr vernünftig geschlafen. Billigste Schnellverpflegung moderte zwischen angehäuftem Tunnelaushub, menschlicher Notdurft und den melancholischen Gedanken an eine Sehnsucht, die nur der versteht, der selbst am Rande des Abgrunds steht. Wer will schon in das Loch des Trostes springen, wenn nur ausgemachte Heuchler das Sprungtuch halten!
Es fehlte aber nicht mehr viel bis zum entscheidenden Tag. Der irakische Freund und Bruder in Geist und Tat hatte die Wartenden und auch die Zweifler auf der anderen Seite des · Antiimperialistischen Schutzwalls · noch rechtzeitig für die bevorstehende Flucht unterweisen können, und so musste auch er für seine zähe Standhaftigkeit einstehen. Tagelange Polizeiverhöre in Ost-Berlin sollten ihn brechen und die Sache verraten. Das geheime Stück Papier hatte er vorher noch schnell in den Mund gesteckt und heruntergeschluckt. Vielleicht gaben sie ihm deshalb kein Wasser, und die Lippen quollen zu rissigem trockenen Reibesand auf.
Es ist halt die Tragik der Geschichte, dass aufrichtige Menschen ans Holzkreuz kommen und andere Lumpen noch ihren schnöden und überdrehten Hollywood-Film vermarkten können. Nach mehreren langen Tagen und noch dunkleren Nächten hinter Schloss und rostigem Riegel konnte Rasoul wieder in den Westen ausreisen.

Das Gewehr lag im Anschlag ̶ der ahnungslose Posten zwischen Kimme und Korn. Sollte abgedrückt werden, oder vielleicht doch nicht? Ja würde der ahnungslose junge Wachsoldat gar das erste Opfer sein?
Mit dem Instinkt des erfahrenen Snipers und der Kühle eines Menschen, der hier im Recht ist, überwachte der Schütze die Situation zur bevorstehenden Flucht. Die letzten Wochen und harten körperlichen Anstrengungen hatten die Truppe ausgelaugt. Die tiefen Schmerzen im wunden Körper wurden durch den pochenden Druck im Gehirn nur betäubt. Der Schmerz erstickt den Schmerz ̶ der angestrengte Blick ins Leere durchbricht die Wand ̶ Sekunden sind noch in ihrem kalten Morgentau verklebt.

Mit den letzten Spatenstichen fiel der leichte märkische Sand der Decke auf die Köpfe der im Tunnel grabenden Gruppe. Einzelne vermoderte Knochenreste längst vergangener Zeiten und vergessener Beerdigungen trübten den Blick nach oben herauf. Ein guter halber Meter trennte noch die im Wege liegende Leiche in ihrem verfaulten stinkenden Friedhofssarg von einer erneuten ungewollten Reinkarnation. Dann ging alles schneller als erwartet. Der Tunnel war gegraben ̶ die Öffnung nach oben hin vorbereitet, und schon sprang der Erste aus der Reihe heraus, um hinter dem alten Grabstein Deckung zu suchen. Das Friedhofsgelände hatte sich als idealer Fluchtort erwiesen. Es lag etwas Schnee auf den Steinen, und die Hände zitterten in der Kälte. Die Frauen und ihre Kinder waren innerhalb eines kurzen Augenblicks in den feuchten Eingeweiden der Erde verschwunden. Mit der Angst im Nacken und dem Stolz in der Seele krochen alle den endlosen Tunnel entlang. Endlos waren die Sekunden und auch Minuten, die den zerberstenden Kopf zu einem mit Fluch beladenen Stundenbrei zerreiben wollten. Nach vorne und hinten heraus wurden sie von den Männern geschützt. Die vielen Taschenlampen wiesen den Weg. Alles war gut abgestützt und gesichert. Es ging von einer schmalen Kurve in die nächste Ecke. Der Schock ließ keine Zeit für lähmende Gefühle. Alle fünf Sinne konzentrierten sich auf diesen Moment.
Mit den Kindern in den Armen ging es dem Ausgang entgegen. Sandkörner brannten in den Augen ̶ die Kehlen waren trocken   ̶ das Herz wollte in der Brust zerreißen. Jeder einzelne Meter klebte wie kaltes Blei an den gefrorenen Waden. Ein stolpernder Schritt folgte dem nächsten Anfall unterdrückten Keuchens. Die Beine versanken im Boden und wollten sich nicht vom leichten Sickerwasser trennen. Die Knie waren aufgeschlagen und die nackte Angst trommelte an die wunde Blasenwand. Die tote Zeit klebte wie hart-verbrannter Gummi an der Stundenuhr. Schatten der Vergangenheit huschten durch die Gehirnwindungen. Ein erster kalter Nebelwind trieb bereits in Mund, Augen und Nase.
Doch dann  ̶  es war vollbracht   ̶  das andere Ende des Tunnels erreicht ̶ die Wiedervereinigung der Familien zu einem guten und schönen Abschluss gekommen. Die angespannten Muskeln erschlafften und ließen endlich den wunden Schmerz fühlen. Es war der Schmerz ihrer größten gemeinsamen Leistung   ̶  die verloren geglaubte Seele der Überlebenden!
Was hatten sie hinter sich gelassen ̶ was sollte die Zukunft bringen, wenn es eine solche gab? In diesen Augenblicken der Pein und Verzweiflung zählte nur das höchste Gut des Menschen, und das war allein die Liebe ̶ die Frau und das Kind. Das war aber auch der Bruder aus dem Irak ̶ die Marter des ewigen Enkidus und der gemeinsame Weg mit seinem Gilgamesch.


... Und als er in das Loch sprang, so sprang auch dieser, um es ihm gleich zu tun.

... Und als er zum zweiten Male in das Loch sprang, so fragte ihn wieder nicht der andere und sprang in das Loch, um es ihm noch einmal gleich zu tun.

... Und als er erneut in das Loch sprang, so fragte jener dann auch beim dritten Male nicht, warum er vor ihm gesprungen war und sprang erneut in das Loch.
Keine Fragen und auch keine Antworten   ̶  allein der Freund bleibt der Freund!