14 Jan 2013






9 · DER HUND · EL PERRO EPILEPTICO · EL GOS EPILEPTIC


Nach sechs langen Tagen Arbeit an der Entstehung der Welt  ̶  dem Himmel der Erde und dem Menschen, waren am siebten Tag die Kräfte erschöpft. Es sollte der Tag der Ruhe sein, und so fiel ihm ein letzter Klumpen übrig gebliebenen Lehms auf den Boden.      
Der Hund entsprang diesem Dreck auf der Suche nach dem Herrn der Schöpfung und geriet dabei an den unvollkommenen Menschen. In gegenseitiger Hilflosigkeit klammerten sich beide aneinander. Dem ersten Schlag auf den Kopf sollten noch weitere traumatische Meditationen folgen.    
Tagelang hatte er bereits das Haus umschlichen und dabei die Essensreste als Geste harmonisch-brüderlicher Einladung verstanden. Das Bedürfnis nach korporaler Vollkommenheit konnte dabei für den Naiven und Ehrlichen eventuell in neuer sklavischer Abhängigkeit enden.           
Der Mensch  ̶  ebenfalls schwach in seiner Eitelkeit, ergriff das Fell des ertrinkenden Tieres. So zogen sich beide aus dem Morast der Geschichte. Die eine Hälfte fand die andere Hälfte, und dabei vergingen die Jahre gemeinsamen Lebens.




Neun Mal hatte der Frühling dem Sommer Platz gemacht  ̶   neun Mal war das Jahr zu neuem Leben erwacht  ̶  neun Ewigkeiten stärkten die Freundschaft  beider ungleicher Geschöpfe.
Bereits ein halbes Jahr vor dem frühen Ende zeigten sich die ersten Symptome. Erst kamen die Attacken unvorbereitet und sporadisch, um dann jedoch in repetierender Dauerkonvulsion zu enden.      
Seit geraumer Vorzeit sind die Epilepsie und ihre Anfälle immer ein Enigma geblieben. Geblieben aber ist auch die Hilflosigkeit in den Momenten der intensivsten Soledad oder Verlassenheit.
Die Hoffnung, dennoch den Spalt in der Tür zu finden, endete in einem imaginären 10-Meterfall in die Tiefe.                                                                                                                                            
Das Loch in der Mauer konvertierte zur Falltür der endlosen Hinterhältigkeit. Hart schlug der Kopf auf dem Boden auf. Die Synapsen sprangen von den Neuronen ab und sollten die spätere Eingabe der palliativen Barbiturate nur noch verschlechtern. Die GABA-Einwirkungen konnten auch nicht mehr zu ihrer vollen Zufriedenheit die Zeitdauer der geöffneten Chlorkanäle des gebeutelten Gehirns erhöhen. Die antikonvulsiven Auswirkungen des Fenobarbiturikums zur lindernden Beruhigung des heftigen Schmerzes würden nicht mehr ausreichen. Der klinisch noch tolerierbare Schlaf musste in pathologischer Ruhigstellung enden. Das Wesen der Kreatur sollte sich verändern. Die Fase der epileptischen Krise würde das Leben auf seinen eigentlichen Sinn reduzieren:    

Vivir por vivir y nada más!  (Viure per viure i res més!)

Sechs Standardtypen der Krise ließen den Beobachter zu impotenter Verzweiflung treiben. Das ganze Spektrum der wissenschaftlichen Medizin würde wie in einem schlechten Film an den Augen vorbeigleiten.     
Klonische - myoklonische - tonische - tonisch-klonische - aklonische und fehlende Krisen sollten sich im Durcheinander der Beobachtungs- und Erklärungsversuche ablösen. Die Fasen der Erholung und der kurzen Ruhe blendeten nur den Verstand des strapazierten Freundes. Nachts wachte er am Lager des kranken Bruders, um beim leisesten Geräusch den Dolch im Herzen zu fühlen. Lange Tage und Wochen waren im rhythmischen Gleichklang vergangen. Die tiefe Tragödie überzog den Körper mit ihrer klebrigen Betäubung. Der Antichrist fraß sich mit der Arglist des unbekannten Bösen durch das gesunde Zellgewebe. Die Anfälle kamen in immer kürzeren Abständen   ̶   der Hoffnung auf Genesung entglitten die vitalen Organe des Geschöpfes. Er konnte nicht sprechen und ließ durch seine dunkelbraunen Augen ein ganzes Lexikon der Kommunikation aus sich heraus. Die Brust blähte sich auf. Das Abdomen trieb die Oberkappe des Diaphragmas bis an den empfindlichsten Punkt der Herzspitze. Der ersten Herzattacke sollten noch weitere folgen  ̶  die Glut im Kopf sollte den Verstand um seine Erleuchtung bringen.


Das nass-kalte Tuch auf dem Kopf dampfte in der Hitze des Sommertages. Eine nicht enden wollende Einsamkeit erstickte den Raum in seiner weiten Enge. Das Salz der Tränen vergilbte zu zart-gelbem Nitrat.
In der letzten Nacht stiegen die Anfälle auf die unvorstellbare Anzahl von zehn an. Die magische Sieben war bereits längst überschritten. Hier konnte auch keine verbrauchte Alchemisten-Fabulation mehr helfen. Die alte Mythologie der Wahrheitsfinder verabschiedete sich in dieser späten Stunde eben so schleichend leise und hilflos, wie sie den gesunden Verstand vernebelt hatte.  
Der Körper wollte nicht mehr  ̶  die Medizin konnte nicht mehr  ̶  der Abschied durfte nicht mehr hinausgeschoben werden. Es war ein kurzes Leben gewesen  ̶  ein reines 
Leben  ̶  am Ende ein Leben mit dem treuen Freund an der Seite.
Ein reiches Leben  ̶  ein Tod für die Kreatur, die nicht in der eigenen Vergessenheit sterben sollte.


Mein Freund, der du gefallen bist in der Agonie der all zu langen Schlacht  ̶  du duldest keine Schmach im Sterben!